Leselust und Handy

Wir springen mit Elan zum Ende des 18. Jahrhunderts. Unser Scheinwerfer ruht vor allem auf den Jahren 1780-1800. In Deutschland mit seinen vielen kleinen Königreichen ist eine unwahrscheinliche Leselust ausgebrochen. Ungefähr 25% der Bevölkerung sind des Lesens mächtig, und die lesen was das Zeug hält. Stundenlang tagsüber sowieso, zusätzlich bis in die Nacht hinein. Kerzen werden zu einem extrem wichtigen Handelsgut.

Romanschreiber bitte vortreten!

Gelesen wird alles, Abenteuerroman, Liebesroman, Schauerroman, phantastische Erzählungen. Plötzlich kommen die Schreiber nicht mehr nach. Vor allem die Damen lechzen, auf einem Sofa sitzend, nach gefühlvollen Geschichten. Wir sind am Beginn der deutschen Romantik. 1750 erscheinen 28 neue Romane, 1800 gibt es bereits 375 (!) Neuerscheinungen. (Rüdiger Safranski : E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten)

Und alles hängt am Buch bzw. Handy

Man kann den Vergleich schon wagen. Alle hängen, und es gibt vor allem im Adel und Mittelstand tagsüber viel Muße, am Buch. Und klinken sich total aus und tauchen ein in die Abenteuer, die das zersplitterte, kleinkarierte Deutschland jener Zeit nicht hat. Man frißt förmlich die Zeilen. 200 Jahre später hat das Handy diese allgegenwärtige Penetranz übernommen und entführt über die Social Media in andere Welten. Spannend irgendwie.

Exkurs: Warum gerade in Deutschland?

Der Lesehunger und die Schreibwut waren ein deutsches Spezifikum. Die anderen großen europäischen Länder brachten es nicht so weit. Heinrich Heine sagt über sie: „Im „Luftreich des Traums“ waren sie nicht so gut zu Hause, sie haben sich auf „platter“ Erde entwickelt.“ Im damaligen Deutschland war alles eng und kleinräumig. All das Außerordentliche, das die englischen Seefahrer und Entdecker, die Pioniere in Amerika, die Wegbereiter und Matadore der französischen Revolution auf die Matte brachten, erlebte das deutsche Publikum im Nachvollzug durch die Literatur. Goethe stellte lapidar fest, dass „das ehrsame Publikum alles Außerordentliche nur durch den Roman kennt“.

by maximilian lötsch (gestützt auf Rüdiger Safranski)


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